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Santiago - du bekommst deine Chance


Ich bin so ehrlich, wir haben es Santiago de Chile nicht leicht gemacht, unser Herz zu erobern. Wir waren vier Wochen in Argentinien unterwegs und haben uns extrem wohl gefühlt. Von jedem haben wir gehört: Santiago de Chile ist eine uninteressante Stadt, da will man schnell wieder weg. Dann kommen wir am Busbahnhof an - mit dem Publikum, das es halt so an einem Busbahnhof gibt. Unsere Wohnung ist zwar wirklich toll, aber auf der Straße extrem viele heruntergekommene Personen, gefühlt schläft alle paar Meter jemand auf der Straße. Dazu noch Sonntag, alles zu und verlassen. In Summe war mein erster Eindruck: Schäbige, amerikanische Großstadt mit lauter Latinos. Argentinien hatte irgendwie Flair, zwar arm und gebeutelt, aber diese omnipräsente Liebe zum Fußball und dieser Schmuddel-Charme - stolz, auch wenn es vielleicht nicht mehr so viel zum stolz sein gibt. Und dann kommt man in eine Stadt, die einfach amerikanisch wirkt: Überall KFC, McDonalds, Markengeschäfte, dazu Obdachlose ohne Ende - halt irgendwie Amerika in einer noch versiffteren Form.

Aber wir haben Santiago eine Chance gegeben und sind froh, dass wir nach dem Abstecher auf die Osterinsel wieder zurückkommen - denn diese Stadt hat schon was. Für uns war der Schlüssel, eben hinter die Fassade zu blicken. Das haben wir mit zwei “GuruWalks”-Touren gemacht. Das sind Walking Touren, die gratis angeboten werden - natürlich gegen ein Trinkgeld, das einem schon auch sehr deutlich ans Herz gelegt wird, aber von lokalen Guides, die das mit sehr viel Herzblut machen - ich kann das wirklich nur empfehlen, wir werden das sicher noch an einigen Orten machen.

Die erste Tour hat uns an die typischen Touristenplätze geführt. Das Bankenviertel, das der Wall Street nachempfunden wurde. Chile hat eine historische Nähe zu den USA und in der Innenstadt von Santiago ist das klar erkennbar. Selbst die für mich höchst amerikanischen Schuhputzer gibt es hier. Chile orientiert sich hier extrem an Nordamerika und Europa, irgendwie passt es so gar nicht nach Südamerika.

Wirklich spannend wurde es im Regierungsviertel. Ich habe absolut keine Ahnung von der chilenischen Politik, ich weiß vielleicht noch Schlagworte wie Pinochet und Diktatur, aber im Endeffekt ist Chile für mich ein lateinamerikanisches Land, das halt alle paar Jahre einen Putsch erlebt.

Für mich war die Erzählung des Guides extrem einprägsam, die Diktatur ist ja noch nicht so lange her, hier die Kurzfassung: Salvador Allende war der regierende Präsident bis 1973. Sehr links von seiner Politik - Augusto Pinochet sein Gegenspieler, der dann schließlich im September 1973 gegen Allende geputscht hat. Und wie es so oft der Fall ist, waren die USA mit der Auslöser. Allende war ihnen ein Dorn im Auge, weil seine Politik schon in Richtung Kommunismus ging, z.B. mit Verstaatlichungen von Ackerflächen. Die wirtschaftliche Lage war in dieser Zeit ohnehin schon schwierig und die USA haben dann die wichtigsten Wirtschaftszweige Chiles (Bergbau - Rohstoffe wie Lithium) boykottiert - was Allende in eine extrem schwierige Lage brachte und den Militärputsch von Pinochet ermöglichte. Für mich spannend: Von der Einflussnahme der USA zulasten der lokalen Bevölkerung habe ich schon mehrmals auf Reisen gehört - v.a. in Südostasien (Vietnam & Kambodscha).

Allende verübte Selbstmord und Pinochet baute eine Diktatur auf, in der er Andersdenkende verfolgte. Wobei er durchaus auch erfolgreiche Projekte auf die Bahn brachte, wie z.B. den Anschluss Patagoniens durch gut ausgebaute Straßen - ich hab mir erspart bei der Tour zu erwähnen, woran mich das erinnert. Unser Guide versuchte da wirklich objektiv zu bleiben, da er die Erfolge Pinochets erwähnte, aber auch hinterfragte, zu welchem Preis. Er meinte aber auch, dass es heute noch viele Menschen in Chile gibt, die Pinochet verehren wie einen Heiligen - sie waren von den Nachteilen nicht betroffen, profitierten aber von den Vorteilen. Wenn es für mich eine Erkenntnis gibt: Von außen kann man diese Dinge nicht so leicht beurteilen, wie es vielleicht den Anschein hat.

Irgendwann haben die USA Pinochet fallen lassen und er musste nach England emigrieren. Warum gerade England? Weil Argentinien gegen England 1982 den Falklandkrieg führte - und Chile stellte sich auf die Seite Englands - durchaus opportunistisch, weil recht klar war, dass England gewinnen würde. Übrigens ist das heute noch ein Riesen-Trauma in Argentinien und man liest immer wieder auf großen Plakaten quer durch Argentinien “Las Malvinas son Argentinas” (“Die Falklandinseln sind argentisch!”). Irgendwann kehrte Pinochet nach Chile zurück, es wurde kein Prozess geführt, da er schon zu alt war und 2006 starb er eines natürlichen Todes. Mir fehlen schlicht die Worte - politische Gegner zu töten, wie es Pinochet ohne jeden Zweifel getan hat und dann aus politischen Gründen Rückendeckung von einem europäischen Staat zu bekommen, was soll man da sagen…

Dies alles von einem Zeitzeugen erzählt zu bekommen - extrem beeindruckend.

Palacio de la moneda - weil früher eine Münz-Präge-Anstalt in diesem Gebäude untergebracht wurde - heute der Amtssitz des Präsidenten

Um zu leichteren Themen zu kommen, momentan schmückt ein großer Christbaum den Platz. Damit kämpfe ich noch immer, dass man Weihnachten bei 30 Grad feiern kann und selbst hier Schneemänner, Rentiere und beschneite Nadelbäume als Symbol für Weihnachten dienen.

Ein weiterer zentraler Platz ist der Plaza de Armas - frei übersetzt der Sammelplatz der Armee. Bei Tag ein durchaus schöner Platz, den man aber abends meiden sollte. Welcome to Latin America. Das war übrigens ein etwas seltsames Erlebnis bei dieser Tour. Wir fühlen uns nicht unsicher, aber natürlich ist selbst in Chile die Sicherheitslage eine ganz andere als in Österreich. Auch hier viel vergittert, bei den Häusern überall Stacheldraht. Aber man bekommt das irgendwann nicht mehr so mit, man weiß wo und wann man besonders aufpassen muss und meidet dann gewisse Ecken. Dazu schon auch viel Polizei in den “Touristengegenden”. Aber zurück zur Tour: Wir treffen uns auf einen zentralen, belebten Platz und kaum beginnt der Guide mit seiner Begrüßung gibt es ein paar Meter hinter ihm ein Geschrei und ein Obdachloser geht mit einem großen Fleischmesser auf einen anderen Obdachlosen los. Streitereien unter Obdachlosen schockieren mich jetzt nicht so besonders, aber ich habe ehrlich in meinem Leben noch nicht gesehen, dass jemand mit einem großen Messer in der Hand auf eine andere Person losgegangen ist. War jetzt für uns nicht gefährlich, aber dennoch ein “schräges” Erlebnis.

Plaza de Armas - links die Kathedrale, rechts der ehemalige Präsidentenpalast und dazwischen der Beweis, dass Bauvorschriften in Lateinamerika anders gelebt werden

Die Tour fand ihren Abschluss in einem Ausgehviertel Santiagos, dem Viertel Lastarria. Tolle Lokale, Bars - großartig und würde in dieser Form auch in Europa überall erfolgreich sein. Wir genossen unseren Lunch in einem der besten Weinlokale dieser Gegend. Für unsere Verhältnisse übrigens sehr billig, drei Gänge samt Weinbegleitung um rund € 15,- pro Person - da hat Santiago schon einen großen Schritt nach vorne gemacht bei uns.
(Die beiden Gänge die man hier sieht: Ceviche mit roten Rüben und danach Oktopus auf schwarzem Risotto… - und dazu ein Blick auf die Weinkarte)

Nachmittags haben wir dann eine zweite Tour durch eine andere Gegend in Santiago gemacht und das war noch faszinierender: Das Barrio Yungay. Das ist ein Stadtviertel, das Mitte des 19.Jhdts geplant angelegt wurde, dann immer mehr verfiel (nicht zuletzt durch die Erdbeben, die Santiago de Chile alle paar Jahrzehnte mal ziemlich zusetzen) und momentan dabei ist, gentrifiziert zu werden. Es ist aktuell noch eine Wohngegend der Unter- bis Mittelschicht. Die Bevölkerung hat sich aber zusammengetan und bildet “Communities”, die einander schützen. Das sind einerseits Häuserblöcke, die hinter einem Eingangstor verschlossen sind. Und andererseits aber auch Wandbilder (Murals) von Künstlern um eben zu verhindern, dass alles beschmiert wird und verkommt. Einmal im Jahr gibt es ein Festival, wo neue Murals erstellt und gefeiert werden. Zu der “Präsentation” eines Wandbildes kam erst vor kurzem der Präsident. Was auch damit zu tun hat, dass er in diesem Viertel wohnt.

Ich wusste das natürlich auch nicht, aber Chile hat seit 2022 einen recht außergewöhnlichen Präsidenten: Gabriel Boric ist erst 38 Jahre alt, hat sein Studium nicht abgeschlossen und ich sage jetzt nicht, woran mich das erinnert. lach Er scheint programmatisch sehr links zu sein und nachdem er nicht aus Santiago stammt (sondern aus Punta Arenas weiter im Süden), hatte er keine Wohnung in Santiago und hat dann entschieden in diesem eher armen Viertel zu wohnen.

Und das war schon faszinierend, wir sind zu seinem Haus gegangen und auch wenn es natürlich Polizei dort gibt, das war extrem harmlos für Lateinamerika. Auf der einen Seite ein Polizist, auf der anderen Seite ein zweiter, aber weit entfernt von großen Schutzmaßnahmen. Spannend - wie gesagt, ich habe schon gelernt, die Politik eines für mich weitgehend fremden Landes nicht zu beurteilen, aber Videos, auf denen Boric mit dem Fahrrad “ins Büro” fährt, haben mich doch beeindruckt. In einem Land, wo jedes Haus mit Gittern und Stacheldraht gesichert ist.

Dieses Viertel ist aufgrund dieser Gegensätze so faszinierend und ich befürchte, dass es in zehn Jahren anders aussehen wird. Bei unserer Tour waren Trapper (Trap ist eine Musikrichtung, eine Art Hip-Hop) auf den Straßen und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich da nächtens allein unterwegs sein möchte. Aber auch da gibt es eine extreme Offenheit in Südamerika, ich hab halt einfach gefragt und dann bekommt man Antworten in dieser Form: “Hier ist es sicher, Richtung Norden auch, aber gehe nicht mehr als 10 Blöcke nach Süden, da wird es gefährlich!”.

Das waren die Eindrücke dieses Viertels - extrem faszinierend. Und in zehn Jahren wohl Opfer von diversen Investment-Gesellschaften. Und da bin ich mit diesem Bericht leider auch ein Teil davon - die Krux am Reisen.

Viele Inhalte beschäftigen sich mit Künstlern, Schauspielern und LGBTIQ-Personen. Sicher eine in unseren Maßstäben sehr “linke” Gegend, aber spannend bis zum geht nicht mehr. Vor allem dieser Gegensatz “Armut” vs. “hippe Gegend” lässt mich in diesem Fall nicht los. Wie gesagt, ich hätte mir allein Gedanken gemacht, ob ich da wirklich durchgehen kann und dazwischen dann wieder Geschäfte, die in jedem Bobo-Bezirk in Wien auch ihren Platz fänden - keine Beurteilung, aber es war wirklich beeindruckend.

Spannend ist hier auch, dass es sehr viele lebende Galerien gibt. Wenn ein Lokal oder Haus draußen eine kleine Flagge hängen hat, kann man einfach reingehen und das ist dann meistens ein Restaurant, eine Bar oder auch irgendein Geschäft, das auch eine Kunstausstellung beherbergt.

Die Bilder sind aus einem Haus, wo unten ein Restaurant ist, man aber einfach durch nach oben geht und dann eine “Ausstellung” (oder wie auch immer man das nennen kann) gibt. Das wechselt alle paar Wochen und die Gegend bleibt extrem lebendig.

Das Video ist aus einer Galerie, die auch ein Café, eine Bücherei und ein Büro ist - man kann das nicht wirklich beschreiben. Seht selbst.

All diese Erlebnisse haben unser Bild gewandelt und ich würde nun Santiago de Chile jedem ans Herz leben - eine spannende, junge, lebendige Stadt. Wir werden jetzt mal auf die Osterinsel verschwinden, haben bei unserer Rückkehr aber noch zwei Nächte in Santiago de Chile und werden da in einem anderen Viertel nächtigen. Und wir freuen uns sehr drauf.

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